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Von einem Sonntag,
der dann doch noch ein schöner Tag wurde


Es ist Sonntag. Das Wetter weiß nicht, was es will. Wolkenmassen schieben sich bedrohlich zusammen und Minuten später reißen blaue Lücken auf. Regen würde uns zwingen im Trockenen zu bleiben, und wir haben gestern Abend auch nicht genug getrunken um ruhigen Gewissens mit einem Kater im Bett liegen bleiben zu können. Also heißt es: die Schuhe an und aus dem Haus.
Aber wohin? Zuerst das Auto abholen.
Über die Brücken zum Parkplatz vor der Kneipe sind es zwanzig Minuten und fünf Minuten zurück, dann haben wir halb zwei, und der Nachmittag ist kaum angebrochen. An den Fluss, zu irgendeinem Schloss oder in die Wälder?
Ziele gäbe es genug.
"Wohin?" frage ich. Diesmal soll Gudrun entscheiden.
"Wolltest du nicht noch auf den Berg ein paar Steine holen?"
"Steine holen, ist eine gute Idee."
Mit Steinen meint Gudrun verwitterte Ziegel, nicht die übliche Form, die Grundfläche ist quadratisch, zwanzig Mal zwanzig, möglich das Sie als Klinker benutz wurden und weil ich sie vor Kurzen fürs Fotografieren eindeckt, habe, kann ich nicht genug davon haben.

Gerade noch drohte dieser Sonntag ein verlorener Tag zu werden und jetzt bin ich eifrig damit beschäftigt, alles für diese kleine Expedition zusammen zu suchen. Ich habe meine Erfahrungen gemacht, und nehme eine Plastiktüte eine solide Stofftasche und einen Rucksack mit. Dem Himmel ist auch nicht zu trauen, also wird eine Regenjacke eingepackt. Ich habe meinen Fotoapparat vergessen, den für unterwegs. Um von der Kneipe auf den Berg zu kommen, müssen wir noch einmal an unserer Wohnung vorbei. Vor der Haustür ist mir nicht mehr nach einem Halt. Ich fahre durch.

Der Berg ist kaum ein Hügel. Die schmale Straße steigt ein wenig an, Chausseebäume im Würgegriff armdicker Efeuranken, einigen ist schon die Luft ausgegangen, erinnern mich an Frankreich. Dann sind wir oben. Pferde grasen auf den weiträumig eingezäunten Wiesen, mitten drin ein zerzaustes Weizenfeld und darüber spannt sich ein scheckig grauer Himmel. Wir überqueren eine künstliche Schlucht, die Autobahn. Vor dem Ortseingangsschild wieder erste Häuser, schließlich stehen sie Spalier, schmucke kleine Einfamilienhäuschen, Werkswohnungen, eine wie das andere erbaut, aber nach gut dünken verputzt und verklinkert, der übliche Flickenteppich und Eingangstüren so wuchtig, als hätte hier jeder seine eigene Villa. Eine Querstraße ist nach dem Gründer der Quarzwerke benannt und bald gibt ein grüner Maschendrahtzaun den Blick aufs Werksgelände frei, auf einen bedrohlich tief wirkenden See, auf hohe Kesselaufbauten, schwarze Förderbänder und gewaschenem Kies, der nach Korngröße sortiert auf Halde liegt. Vor uns kreuzen Schienen die Straße. Ich parke einige Meter davor, auf dem Seitenstreifen.
"Hast du keine Regenjacke dabei?" frage ich.
"Solange es windig ist, wird es nicht regnen."
Ich packe meine schwarze Jacke zusammen mit der Plastiktüte und der Stofftasche in den Rucksack. Wir müssen die Schienen entlang. Das Schild "Betreten Verboten" schreckt niemanden ab. Neben einer, mit Schloss und Kette gesicherten Schranke, ist ein Pfad ausgetrampelt. Außerdem ist heute Sonntag. Die Trasse macht in der Ferne einen leichten Rechtsbogen und ist breit genug für Lkws und Züge. Aber der Boden ist schlammig und die Pfützen sind groß wie Teiche. Wie bleiben auf den Gleisen. Gudrun läuft auf dem Schotterbett und ich auf den Schwellen, auf moosbewachsenem, teils angefaultem Holz. Es ist rutschig wie Schmierseife. Der ganze Gleiskörper ist verwildert und verrottet. Nur die Schienenköpfe sind blank, über das Eisen rollen noch Züge. Wir machen einen Abstecher rechts zu einem See. Hinter den Birken, die einen Wald vortäuschen, wächst weich federndes Gras, wir laufen bis zur steil abfallenden Uferkante. Enten paddeln gemächlich übers Wasser. In der glatten Oberfläche spiegelt sich der Himmel.
"Sieht kalt aus." sagt Gudrun.
Hier gibt es Dutzende Teiche und Seen, teils ausgebaggert teils natürlich und dazwischen Sümpfe und Wälder.
"Ich habe gerade einen Tropfen abbekommen." "Das glaube ich nicht."
"Warte mal."
Ich stecke mir einen Finger in den Mund und halte ihn dann in die Luft. "Windstill!" sage ich und brauche keine weitere Überzeugungsarbeit zu leisten. Jetzt fallen die Tropfen regelmäßig.
"Willst du meine Regenjacke?"
Gudrun winkt ab.
"Ich hätte auch meine Eigene mitnehmen können."
"Dann lasse ich sie drin. Werden wir eben beide nass."
Seit dem zwanzigsten Juni hat es jeden Tag geregnet, wenn es nicht gerade aus Kübeln goss, dann fiel zumindest ein abendlicher Schauer. Ich muss es wissen. Der Zwanzigste war ein Samstag. Ich hatte Geburtstag. Wir waren zelten und es war sonnig. Sonntagabend gab es dann ein erstes, kräftiges Gewitter.
Es wird dunkel, als würde jemand Vorhänge zuziehen. Ein Pfau schreit. Der ist hier irgendwo im Unterholz Zuhause. Vielleicht versteckt sich in der Wildnis neben den Gleisen auch ein Garten mit Voliere. Wir haben ihn schon öfter gehört aber noch nie gesehen und jedes Mal zieht es mir die Kopfhaut zusammen. Dieser Schrei weckt Ängste noch aus der Zeit, als die Krokodile unterm Kinderbett lauerten, bis ich mich schließlich daran erinnere, dass Fabelwesen ausgestorben sind. Über uns hat es sich mächtig aufgetürmt. Es regnet Bindfäden. In den Pfützen brodelt es. Jetzt nehme ich doch den Rucksack vom Rücken und krame die Jacke heraus. Sie hat keine Kapuze.
"Komm ich mache uns ein Dach."
Wir laufen eng nebeneinander und halten die Jacke über unsere Köpfe. Es prasselt auf uns herunter und ich kann am Handrücken spüren wie die Tropfen aufschlagen. Lange dauert es nicht, bis unser Dach leckt, der Stoff ist nicht für solche Fluten gemacht. Ich habe längst einen nassen Hintern von den kleinen Bächen, die mir den Rücken herunter fließen und obwohl wir staksen wie die Störche, heben wir die Füße nicht hoch genug. Was das Grünzeug zwischen den Schwellen an Wasser sammelt, streift an unsern Beinen und den Schuhen ab. Sie sind undicht. An der Naht zwischen Vorderkappe und Sohle steigen kleine Luftbläschen auf. Wenn die Schuhe wieder trocken sind, werde ich flüssiges Gummi dazwischen schmieren. Gudrun kommt mit der Schrittweite auf den Schwellen nicht zurecht und wieder ein Fehltritt.
"So jetzt reicht es mir. Ist ja nur Regen " sagt sie, verlässt unsere Behausung und läuft wieder neben dem Gleis auf dem Schotter.
Sie hat recht, die Jacke ist mehr Hindernis als Schutz und ich streife sie mir jetzt nur über, weil es mir zu umständlich ist, sie wieder in den Rucksack zu packen. Den trage ich nur noch über einer Schulter. Nass bis auf die Haut kann ich den Regen genießen. Es ist nicht kalt. Das beste Wetter für amphibische Gefühle. Zwischen meinen Fingern kann ich die Überbleibsel von Schwimmhäuten entdecken. Auch Gudrun tänzelt.
Hier müsste es sein. Das Feuchtgebiet liegt hinter uns. Kiefern wachsen auf dem sandigem Untergrund. Ein Forstweg kreuzt die Eisenbahn. Das Andreaskreuz diente wohl schon öfter als Zielscheibe. Steinen und andere Geschosse haben das rot weiße Blech ramponiert.
"Und wenn wir keine finden?"
Gudrun trifft es auf den Punkt. Ich mache mir Sorgen. Rechts auf der freien Fläche müsste der Bauschutt zu sehen sein. Es war doch die erste Kreuzung. Plötzlich fällt mir ein, dass wir letztes Jahr aus der entgegen gesetzten Richtung gekommen sind.
"Keine Bange, noch sind wie nicht da."
Ich gebe mich ortskundig. Eine Biegung weiter stoßen wir auf eine ähnliche Kreuzung. Regenwasser läuft m it das Gesicht herunter. Ich wische mir mit dem nassen Ärmel meiner Jacke über die Augen und bin immer noch beunruhigt. Irgendwie hatte ich das anders in Erinnerung. Statt Mauerreste sehe ich einen aufgeschütteten Erdwall. Auf dessen Krone haben sich Holundersträucher angesiedelt. Der Aufstieg ist lehmig und unbewachsen.
"Dann wollen wir doch mal schauen."
"Hier?"
"Ich hoffe schon."
Wir stapfen über ein paar Meter feuchte Wiese. Am Fuß des Erdwalls finde ich ein verkohltes Kantholz, entdecke aber keine Ziegelsteine. Vielleicht weiter oben. Ich arbeite mich die Steigung hoch, die Füße nach außen gestellt und trete dabei kleine Schlammlawinen los. Gudrun bleibt unten.
"Ich habe einen" ruf ich ihr zu.
Er liegt eingebettet im weichem Untergrund und zeigt mir nur die unansehnlich Mörtelkruste der Rückseite, aber die Form ist unverkennbar. Mit einer Hand halte ich mich an einem überhängende Ast fest, mit der andren zerre ich den Stein aus dem Sog des feuchten Lehmbodens. Die strenge Geometrie des zurückbleibenden Abdrucks macht sich gut in der Wirrnis des Abhangs. Der Stein enttäuscht. Abgeschirmt von Wind und Wetter, fehlt die charakteristische Zeichnung auf der Vorderseite. Ich lasse ihn hinunter kollern. Auch der Nächste und Übernächste ist ungeeignet. Es scheint als hätte jemand die Ziegel mit bedacht eingegraben. Der Regen wird weniger und wärmer. Ich schwitze.
"Hier ist auch noch einer."
Gudrun hat in der Zwischenzeit die Wiese inspiziert. Mehr rutschend als laufend komm ich bei ihr an.
"Ja! Der ist Gut."
Ich erkenne gleich die ersehnten Risse, die von Wind, Wasser, Sonne und Frost berichten. Er ist nicht ganz so tief eingelassen wie die Steine am Hang. In der frei gelegten Mulde windet sich ein fetter brauner Regenwurm. Gudrun schaut weg. Ich gönne dem nackten Tier eine Handvoll Erde. Jetzt versuche auch ich mein Glück hier unten. Kaum einen Meter weiter, erspähe ich den Nächsten, gut getarnt unter einem Moosteppich. Er sitzt so fest, dass ich ihn mit den Fingern ausgraben muss. Die Erde staut sich unter meinen Nägeln.

Die Gegend ist abgesucht. Vier Ziegelsteine kommen in die engere Wahl. Drei müssen genügen, mehr hält die Tasche nicht aus. Wir hocken vor der Pfütze, wo wir sie gewaschen haben. Wasser bringt die Zeichnung besser zur Geltung. Gerade dem Schönsten, mit Waben Muster habe ich eine Kante abgeschlagen, beim Versuch die Mörtelreste mit einem Kieselstein abzuklopfen.
"Den lassen wir dann am besten hier. Schade drum." sage ich.
"Wie kommen sicher noch einmal hier vorbei."
"Auf jeden Fall und dann nehme ich den Klappsparten mit. Und was machen wir jetzt mit den Anderen?"
Die Steine liegen hier schon seit wer weiß wie vielen Jahren. Aber zusammen getragen auf der Wiese, könnte ja jemand auf die Idee kommen seinen Garten damit pflastern zu wollen, bei all der Mühe, die wir uns gemacht haben. "Wie könne sie ja dahinten in den Büschen verstecken." sagt Gudrun.
Sie versteht mich.

Es hat aufgehört zu regnen. Zwischen den Wolken zeigt sich sogar kurz einmal die Sonne und heizt mir unter meiner schwarzen Jacke ein. Nass, wie ich bin, hab ich das Gefühl ich dampfe. Gemeinsam schleppen wir die schwere Stofftasche. Jeder hält eine Trageschlaufe in der Hand. Die Steine sind zusätzlich in der Plastiktüte verpackt. Der Rucksack ist leer. Ich schone meinen Rücken. Wir wechseln wieder einmal die Seite. Gudrun hält sich tapfer, verzieht keine Mine. Aber ich spüre ja, wie das Gewicht in meinem Arm zerrt. "Weiß du was, das machen wir jetzt anders. Las mal los "
Ich fasse unter die Tasche und schulter sie. "Ist dir das nicht zu schwer. "
"Besser so, als das Geschlinger am ausgestreckten Arm. "
Ich laufe in der klassischen Schräglage, balanciere die Last über den Körpermittelpunkt aus und es geht leichter. Das sind höchsten 18 Kilo, schätze ich, Zuhause werde ich es nachwiegen, wenn nur die Kanten nicht wären. Es gibt bequemes und unbequemes Gewicht.
Eine Frau mit einem Riesenschnauzer, der an der Leine zerrt, kommt uns entgegen. Die beiden sind erst nach dem Schauer aus dem Haus. Der Hund schnüffelt hektisch am Boden, dann hebt er die feuchte Nase. Wir sind nicht gemeint. Er folgt anderen Spuren. Sein Frauchen mustert uns misstrauisch aus den Augenwinkeln. Sie wittert sicher etwas Kriminelles. Keine Frage, unser Aufzug ist verwegen. Und was schleppt er da Schweres auf der Schulter?
Hinter uns wagt sie den direkten Blick. Ich ertappe sie dabei, wie sie uns nachschaut. "Ich glaube wir machen keinen all zu guten Eindruck." sage ich noch in Hörweite.
"Weißt du denn überhaupt wie du aussiehst."
Ich sehe an mir herunter. Die Hose hat es schlimm erwischt und auch die Jacke hat graubraune Spritzer abbekommen. "Wie ein Dreckschwein sehe ich aus! "
"Genau als hättest du im Schlamm gewühlt."
"Und das an einem heiligen Sonntag."
"Wenn wir nach Hause kommen, müssen wir erst einmal in die Badewanne."
"Du siehst aber noch ganz manierlich aus. "
"Heißt das, du willst allein Baden?"
Mein Mund füllt sich mit Speichel. Ich schlucke und dann muss ich grinsen, weil ich reagiere wie ein pawlowscher Hund, der grade die Glocke gehört hat. Dabei ist vom Essen ist gar nicht die Rede.
"Nein, nein, wenn dann gehen wir zu zweit. Einer muss mir doch den Rücken schrubben."         zurück



Rolf Puschnig 1998